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Lokale Proteste gegen die kommunale Selbstverwaltung

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Wer kennt sie nicht, die Debatten um die Preußische Gemeindeordnung von 1850. Oder?

Natürlich kennt sie eben nicht jeder. Was soll das überhaupt für eine Gemeindeordnung gewesen sein? Ich sage: eine besonders interessante, vor allem dann, wenn man sich für Selbstverwaltung als Regierungstechnik und ländliche Gesellschaften gleichermaßen interessiert.

Mit der Gemeindeordnung von 1850 sollten erstmals alle Gemeinden Preußens, also auch die Dörfer Ostelbiens, eine gewählte Vertretung mit Selbstverwaltungsrechten bekommen. Bislang gab es zwar Schulzen oder Dorfrichter in den vielen Gemeinden des östlichen Preußens, diese wurden aber in der Regel nicht von den Einwohnern gewählt, sondern vom Gutsherrn eingesetzt. Ob es Mitspracherechte zumindest ausgewählter Einwohner gab, war sehr unterschiedlich.

Die Gemeindeordnung ist auch deshalb so unbekannt, weil sie zwar 1850 in Kraft gesetzt, aber bereits 1853 wieder kassiert wurde, bevor sie in den meisten Gemeinden überhaupt hatte umgesetzt werden können. Entsprechend dünn ist auch die Literaturlage zu diesem Gesetz.

Besonders interessant finde ich die Gemeindeordnung von 1850 nicht primär deshalb, weil sie so schnell wieder abgeschafft wurde. Das ist ein Teil der Geschichte, wie Preußen sich nach 1848 wieder als konservativer Staat im Innern ausrichtete, dabei aber eine erstaunliche Flexibilität an den Tag legte. Die Details kann man bei Anne Ross nachlesen1 – die Lektüre empfehle ich ausdrücklich.

Ich will heute eine andere Geschichte erzählen, die diese Gemeindeordnung zum Ausgangspunkt nimmt. Bei der Recherche für meine Habil habe ich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin eine ganze Menge Petitionen gegen die Gemeindeordnung gefunden, die von Vertretern ostelbischer Landgemeinden stammten. Diese Petitionen sind sehr unterschiedlich. Manche sind handschriftlich verfasst und von Vertretern eines Dorfes unterzeichnet, andere sind gedruckt und von Vertretern vieler Gemeinden signiert. Es gibt sogar einige Stapel mit wortgleichen Petitionen, die offenbar in unterschiedlichen Kreisen zirkulierten. Gerade diese wortgleichen und die gedruckten Petitionen weisen darauf hin, dass es eine organisierte Bewegung gegen die Gemeindeordnung gab. Sehr wahrscheinlich ging diese Organisation nicht von bäuerlichen Akteuren aus, denn eine eigenständige Organisation bäuerlicher Interessen in Ostelbien gab es nicht.

Die Petenten forderten z.B. die Abschaffung des Gesetzes, weil es „bei wirklicher Ein- und Durchführung das Vaterland mit schwerem Unheil bedroht.“2 Sie betonten, dass „[u]eber die Verderblichkeit dieser Gesetze […] bei allen Patrioten […] nur eine Stimme“ herrsche,3 und sie befürchteten, dass „[m]it ihrer unveränderten Einführung […] alle aus den ländlichen Verhältnissen naturwüchsig hervorgegangenen Gliederungen schonungslos zerstört und Institutionen zu Grabe getragen [würden], die seit Jahrhunderten sich als zweckmäßig bewährt haben.“4

Durch die Bank weg forderten also die Petenten, die Gemeindeordnung wieder abzuschaffen. Aber warum forderten das ausgerechnet die Vertreter der Landgemeinden, unter ihnen viele Gemeindevorsteher, denen doch mit der Gemeindeordnung zusätzliche Rechte eingeräumt werden sollten? Die Petitionen sind also erklärungsbedürftig.

Die einfachste Antwort auf die Frage ist, dass die Vorsteher von den Gutsherren, von denen sie ja abhängig waren, gezwungen wurden, gegen die Gemeindeordnung zu protestieren. Aber welchen Einfluss hatten die Gemeindevorsteher? Hätten sie geschwiegen oder gar für die Gemeindeordnung gesprochen, hätte das das Ziel des mächtigen konservativen Landadels, die Gemeindeordnung abzuschaffen, kaum gefährdet. Wären die Petitionen tatsächlich nur durch Zwang zustande gekommen, wäre dieser Zwang ordentliche Zeit- und Energieverschwendung gewesen. Außerdem spricht die schiere Zahl der Petitionen dagegen, dass sie nur durch Zwang zustande gekommen sind.

Oder verstanden die Vorsteher und weitere Vertreter der Landgemeinden nicht, dass sie hier gegen ihre ureigensten Interessen handelten? Das unterstellt, dass die Vertreter der Landgemeinden im besten Falle naiv, im schlimmsten Falle dumm gewesen seien. Diese Erklärung ist mir zu einfach. Vielleicht kann man hier eine Parallele ziehen: Lange Zeit wurde genau mit dieser (politischen) Naivität der einfachen Bauern erklärt, warum so viele von ihnen im Bund der Landwirte, der mächtigen Lobby-Organisation der Großgrundbesitzer um die Wende zum 20. Jahrhundert, Mitglied gewesen seien. Sie hätten nicht begriffen, dass der Bund lediglich die Interessen der Großgrundbesitzer auf Kosten der Bauern vertreten habe. Dieses Erklärungsmuster ist seit langer Zeit deutlich revidiert5, unter anderem, indem Historiker wie Blackbourn danach fragten, welche Interessen die Bauern denn selbst hatten – und ob diese nicht doch durch den Bund der Landwirte vertreten wurden. Es spricht in meinen Augen nichts dafür, dass auf einem anderen Feld die These von den naiven Bauern, die sich vor einen fremden Karren spannen ließen, plausibler wäre.

Vor diesem Hintergrund habe ich also die Petitionen noch mal genauer angeschaut, welche Argumente die Vertreter der Landgemeinden gegen die Gemeindeordnung vorbrachten. Da war einmal das Argument, das zum Beispiel in der letztzitierten Petition aufgebracht wurde: Die Gemeindeordnung schaffe Institutionen ab, die sich seit langer Zeit bewährt hätten. Ich hatte erwähnt, dass eine eindeutige Regelung für alle Gemeinden nicht existierte. Aber gerade dort, wo es Vertreter der Gemeinden gab, existierten offenbar lokale Ordnungen, die irgendeine Art der Vertretung zumindest der kleinen bäuerlichen Schicht vorsahen. Und die Vertreter dieser Gruppe fanden, dass die örtliche Verwaltung so eigentlich gut funktionierte. Sicherlich trug zu dieser Zufriedenheit auch bei, dass die Gemeinden nicht besonders viele Aufgaben hatten, denn das machte wenig Arbeit und kostete noch weniger Geld. Hier kommt das nächste Argument ins Spiel, das ich in den Petitionen gefunden habe: Die neue Gemeindeordnung werde zu „Vielschreiberei“ führen – das klassische bürokratiekritische Argument des 19. Jahrhunderts. Die Gemeindevorsteher brannten sicherlich nicht darauf, mit deutlich mehr Verwaltungsroutinen belastet zu werden, die sie neben ihrer (in den meisten Fällen) Landwirtschaft hätten erledigen müssen.

Die letzte Frage ist vielleicht die wichtigste: Warum wollten die Vertreter der Landgemeinden keine breitere Mitbestimmung, kein breiteres Wahlrecht für die Gemeindevertretungen? Hier liegt die Antwort auf der Hand: Die Vertreter, die die Petitionen zeichneten, hatten ja bereits (zumindest geringe) Mitspracherechte. Und sie wehrten sich dagegen, dass diejenigen, die bislang nicht stimmberechtigt in den Gemeinden waren, nun plötzlich mitbestimmen sollten. Die Repräsentation der Gemeinde war eng verknüpft mit der extremen sozialen Ungleichheit in den Dörfern des östlichen Preußens in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Mitbestimmungsrechte waren an Bodenbesitz geknüpft. Manche Grundstücke waren für das lokale Stimmrecht zudem mehr „wert“ als andere. Wäre nun, analog zum Wahlrecht des Landtags, auch in den Gemeinden das Dreiklassenwahlrecht eingeführt worden, hätte schon das zu enormen Kräfteverschiebungen geführt – und das, obwohl es sich ja beim Dreiklassenwahlrecht wahrhaftig nicht um ein demokratisches Wahlrecht handelte.

Insofern: Die Petitionen gegen die Gemeindeordnung sind eine ganz gute Quelle dafür, dass die Selbstverwaltung der Gemeinden im heutigen Sinne in der Mitte des 19. Jahrhunderts für manche Bewohner ländlicher Gemeinden keineswegs besonders erstrebenswert war. Dass sie trotzdem früher oder später (im östlichen Preußen: später, nämlich mit der Gemeindeordnung von 1891) kam, hatte vornehmlich andere Gründe. Das reichte von der Einordnung der Grundherren in die staatliche Verwaltung und Machtstruktur bis hin zur Notwendigkeit, die Gemeinden stärker zu standardisieren, um sie ins Steuersystem einpassen zu können. Ein Demokratisierungsprojekt waren viele der Gemeindeordnungen allerdings nicht. Oder zumindest nicht primär.

  1. Ross, Anna: Beyond the barricades. Government and state-building in post-revolutionary Prussia, 1848-1858. Oxford u. a. 2019.
  2. 7 gedruckte Petitionen an den Preußischen König (3 Seiten), 07/1850, Bl. 3, in: GStA, I. HA, Rep. 77, Tit. 760, Nr. 1, adh. II.
  3. 14 gedruckte Petitionen an den Preußischen Ministerpräsidenten (2 Seiten), 02-03/1851), in: GStA, I. HA, Rep. 77, Tit. 760, Nr. 1, adh. II.
  4. Petition aus dem Tauchel [heute: Tuchola Żarska], Sorauer Kreis, 19.4.1851, in: GStA, I. HA, Rep. 77, Tit. 760, Nr. 1, adh. II.
  5. Z.B. bei Blackbourn, David: Peasants and Politics in Germany, 1871–1914. In: European History Quarterly 14 (1984), S. 47–75.

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